Die grüne Straße nach Finsbury Park

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< <23. Dezember 2016>>Jens R. Prüß

oder:  Auf den Spuren Ruth Rendells und der LNER „Vor noch nicht allzulanger Zeit fuhr in London eine Vorortbahn von Finsbury Park nach Highgate und möglicherweise auch noch weiter, doch das kann ich nicht sagen. Sie wurde stillgelegt, bevor ich nach Highgate zog, und irgendwann wurden auch Gleise und Schwellen abmontiert. Aber die Spur ist geblieben, und es ist eine sehr interessante Spur. Manche Leute, die an der ehemaligen Bahnlinie wohnen, behaupten steif und fest, sie hörten nachts, wenn der Wind richtig steht, noch immer den Zug die Steigung nach Highgate hinaufkeuchen, hörten sein langes melancholisches Pfeifen, kurz bevor er in den alten Bahnhof einfährt.“ So beginnt Ruth Rendells Kurzgeschichte „Die grüne Straße nach Quephanda„. Die deutsche Rechtschreibung ist hier noch die alte und das Wort „Spur“ (track) wäre mit „Trasse“ genauer, wenngleich prosaischer übersetzt. Aber das ist nicht so wichtig. Fans der Autorin brühen noch einen Tee auf und legen das Buch dann bis zum Schluss nicht mehr weg. Fans alter Bahnstrecken holen „London A-Z“ hervor, möglichst eine alte Version, und suchen die genannten Stationen. Fans der Autorin und alter Bahnstrecken fahren hin. Wir (m/w) waren da, sind die viereinhalb Meilen (gut 7 km) von Highgate nach Finsbury Park abgewandert und haben alles so vorgefunden wie von R.R. beschrieben. Alles? Naja, die Wiese links von der Holmesdale Road, den Flieder, die Radfahrer, die Hunde und was sie hinterlassen, die Brücke unter Crouch End Hill und die über Stapleton Hall, von der aus man links und tief unten die zweigleisige Hauptstrecke Richtung Harringay Stadium und South Tottenham in der Sonne gleißen sieht, wenn selbige scheint. In drei Schichten keuchte der Verkehr früher kreuzungsfrei durch diese ländliche Gegend, denn auf halber Höhe schiebt sich die Straße zwischen den Bahnlinien hindurch. Wir sahen den Kinderspielplatz (mit „Halfpipe“ für Skateboarder), die Graffiti, Brombeerranken und die einstigen Bahnsteige auf knapp halber Strecke. Es hinderte uns kein „mit Stacheldraht versperrter Tunnel“; tatsächlich ist die Trasse bis zur Oxford Road begehbar, genauer: bis zu deren Verlängerung, einer Fußgängerbrücke über die Gleise der Nord-Süd-Hauptstrecke. Wer hinüber geht, gelangt in den Finsbury Park. Nichts mehr zu sehen ist von der einstigen (vermutlich) kühn geschwungenen Brücke, mittels derer „unsere“ Bahn aus Richtung Highgate auf die andere Seite der Hauptstrecke gelangt sein muss, um sich dort in den Bahnhof einzufädeln. Und die Abzweigung? Die „grüne Straße nach Quephanda“ mit ihren Eichen und Buchen, mit Fingerhut, Rainfarn und Mimosen? Der Zubringer zum Alexandra Palace? Wo genau haben wir den gefunden? Das muss hier offen bleiben, weil möglicherweise noch nicht alle die Geschichte gelesen haben. Statt dessen etwas zur Historie dieser Bahnstrecke, denn die ist (fast) genau so spannend: Nach mehr als 70 Jahren unter Dampf sollte sie vor langer Zeit einmal modernisiert, elektrifiziert und in das U-Bahn-Netz integriert werden, doch ist daraus just auf diesem Abschnitt nichts geworden. (Was jetzt folgt, geht ziemlich ins Detail. Wer das nicht lesen will, gehe zurück zu meiner Startseite. Wer richtig tief in die Nord-Londoner Eisenbahngeschichte eintauchen will, klicke hier.)    Es handelt sich um ein Teilstück der 1867 eröffneten Strecke der LNER (London & North Eastern Railway) von Edgware nach Finsbury Park. Sie verlief über Finchley, wo eine Stichstrecke Richtung Norden nach High Barnet abzweigte, und  Highgate. Über 100 Züge pro Tag dampften hier Anfang der 1930er Jahre nach Finsbury Park und weiter nach London hinein, davon 43 aus Richtung Alexandra Palace, denn das war die zweite abzweigende Stichbahn (sie führte übrigens, das darf verraten werden, über Muswell Hill, später bekannt geworden durch die Kinks). Während dieser Zeit endete der Highgate-Zweig der Northern Line (U-Bahn) etwas weiter südlich, nämlich am heutigen Bahnhof Archway (damals ebenfalls Highgate genannt). Es gab dort also keine Verbindung der Strecken, kein „Interchange“, aber zwei Bahnhöfe namens Highgate. Einen gemeinsamen (End-)Bahnhof hatten LNER und Northern Line trotzdem, nämlich Edgware, welches die U-Bahn von Camden aus über ihren weiter westlichen Zweig erreichte. Ja, das ist etwas für Kenner der nördlichen Londoner Vororte (und wer kennt die schon wirklich), aber dann kam „the year 1933 (which) saw the creation of London Transport“. Zu der Umstrukturierung, die dadurch möglich wurde, gehörte die Übernahme der genannten LNER-Strecken durch die Northern Line. Diese sollte und wollte sie für den U-Bahn-Betrieb umrüsten. Wer auf den heutigen Underground-Plan guckt, sieht, was davon realisiert worden ist. Tatsächlich führt die Northern Line von Camden Town (wer kennt ihn nicht, den Camden Market?) über Finchley Central nach High Barnet. Auf dieser nördlichen Route löste im April 1940 die elektrische U-Bahn die bisherige Dampftraktion ab. Voraussetzung war, die Lücke zwischen den Streckenteilen zu schließen. Das geschah durch die Verlängerung der U-Bahn-Linie über das südliche Highgate (umbenannt in Archway) und das nördliche Highgate hinaus bis nach East Finchley, wo der Anschluss an die alte LNER-Strecke hergestellt wurde. Allerdings dampften deren Züge nur noch ein knappes weiteres Jahr lang bis East Finchley; danach musste bereits in Highgate umgestiegen werden, was wegen des Höhenunterschiedes umständlicher war. (Wird fortgesetzt. Fotos sollen auch folgen.)  

  • Ruth Rendell, Die grüne Straße nach Quephanda, in: Die neue Freundin (The New Girl Friend and Other Stories), London 1985 / Reinbek (Rowohlt Taschenbuch Verlag) 1986.

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