Was ich erzählen will, hat sich in dem Sommer abgespielt, den ich auf der Billerhuder Insel verbrachte. Statt „erzählen“ sollte ich vielleicht lieber „berichten“ sagen oder „zu Protokoll geben“, aber im Grunde trifft auch das nicht so richtig, denn ich sitze ja keinem Kriminalkommissar gegenüber und keinem Reporter, sondern meinem Freund Jan. Der war mal Journalist, früher, bei einem Fachblatt für Tauchsport, aber jetzt hat er ein Büro in der Umweltbehörde, und der Grund, warum ich manchmal hierher komme, obwohl das für mich sehr mühsam ist und auch nicht ungefährlich, der Grund ist einfach, dass er hier eine Textverarbeitung zur Verfügung und sich bereit erklärt hat, dies für mich aufzuschreiben, nach Feierabend, damit es seine Chefin nicht merkt.
Meine Idee war es übrigens nicht, so anzufangen, mit den äußeren Umständen, unter denen dies zu Papier gebracht wird, und ich habe Jan auch gefragt, ob es nicht besser wäre, sein Name würde hier gar nicht erscheinen, von der Umweltbehörde ganz zu schweigen. Er meint, anders geht es nicht wegen der Glaubwürdigkeit, Logik und unbedingten Detailtreue. Darauf lege ich auch Wert, insofern hat er wohl Recht, aber nun will ich auf die Billerhuder Insel zu sprechen kommen und was durch meine Schuld damals dort geschehen ist. Doch, durch meine Schuld, ob es Jan passt oder nicht, er muss es schon so hinschreiben.
Die Billerhuder Insel ist deswegen eine, weil die Bille oben und der Bullenhuser Kanal unten drum herum fließen… na ja, ein Kanal fließt eigentlich nicht, aber jedenfalls ist dazwischen die Insel. Sie wird gänzlich von Kleingärten eingenommen, ist soundsoviele Hektar groß und gehört zu Rothenburgsort oder vielleicht auch zu Hamm-Süd, das weiß ich nicht so genau und es ist auch egal, weil in Eppendorf sowieso keiner weiß, wo diese Stadtteile liegen und wodurch sie sich unterscheiden. Eppendorf jetzt nur als Beispiel. Jedenfalls sind es soziale Brennpunkte oder wie die das heutzutage nennen. Mir ist sowas egal, ich würde nie nach Eppendorf ziehen, wo die Häuser höher sind als die Bäume und unsereiner die halbe Nacht keine ruhige Minute hätte wegen des Parkplatzsuchverkehrs. Das weiß ich von Jan. Rund um die Billerhuder Insel sucht keiner einen Parkplatz, höchstens Liebespaare, die haben sich nie für mich interessiert und umgekehrt.
Auch aus der Umweltbehörde verirrt sich nur selten jemand dorthin, in der Mittagspause oder nach Feierabend. Jan ist eine Ausnahme, er geht manchmal auf der Insel spazieren, auch jetzt noch, sagt er, wenn die Sonne scheint und er „flexible Pause“ gedrückt hat. Er sagt, es ist ein gebrochenes Idyll mit seinen Kleingärten und Bootsstegen, umgeben von Gewerbebetrieben und Industriebrachen und mit den Schäfchenwolken aus der AVG im Hintergrund. AVG heißt „Abfall-Verwertungsgesellschaft“. Dadurch haben wir uns kennen gelernt, nicht durch die AVG, sondern weil die Insel so schön ist, denn mir gefällt es dort auch sehr. Gefiel es, müsste ich sagen, denn seit den Ereignissen damals in dem bewussten Sommer bin ich nur noch manchmal hingegangen, um mich mit Jan zu treffen und – ja, sozusagen über die alten Zeiten zu reden, wenn es auch kein gemütlicher Plausch ist und die Erinnerung weh tut.
Es war ein schönes Jahr auf der Billerhuder Insel, besonders der Sommer. Den Winter über hatte ich mich auch schon dort verkrochen und ihn, feuchtkalt und grau wie er war, größtenteils verpennt, um keine Depressionen zu kriegen und womöglich abzumagern. Das war kein Problem, das Verkriechen und Verpennen meine ich, denn im Winter stört einen da keiner. Es gibt nichts umzugraben und keine Grillfeten, die Rasenmäher sind im Schuppen und die Boote an Land, die meisten Schreber gucken nur hin und wieder mal nach dem Rechten oder wenn sie Versammlung haben mit Neuwahlen.
Als der Frühling kam, war ich zuerst etwas besorgt, und in der Tat war alsbald, wie man so sagt, Leben in der Bude. In meiner allerdings nicht, in die ich eingezogen war, denn die gehörte keinem mehr. Die Parzelle war verlassen, von der Bude blätterte die Farbe, und den Birnbaum hatte schon im Vorjahr keiner mehr abgeerntet. Es war wirklich der ideale Unterschlupf, und es wurde ein unbeschwerter Sommer, zumal der Birnbaum wunderschön blühte und nachher jede Menge Früchte trug – nehme ich jedenfalls an, denn im Herbst war ich ja schon nicht mehr da. Die Inselbewohner waren eigentlich sehr tolerant oder vielleicht ja auch nur zu phlegmatisch, um über irgendwas erstaunt zu sein. Jedenfalls ließen sie mich von morgens bis abends in Ruhe meiner Wege gehen. Das tat ich, anfangs noch sehr vorsichtig, ich stand immer sehr früh auf und kam erst nach Einbruch der Dämmerung zurück, um nicht von den Nachbarn gesehen zu werden. Später versteckte ich mich nicht mehr, machte nur vorsichtshalber einen Bogen um das Vereinshaus und den Kinderspielplatz, da weiß man ja nie. (Wer übrigens lieber zurück zum Seitenanfang möchte …)
Alles wurde anders von dem Tag an, als Kostorzky die Insel betrat. Damit will ich nicht nachträglich ihm die Schuld geben, denn die liegt allein bei mir. Neid, Habgier und Missgunst sind verhängnisvolle Charakterzüge, das habe ich auf bittere Weise lernen müssen. Jetzt unterbricht mich Jan und sagt, ich greife vor. Erstmal, bevor neue Personen erwähnt werden, muss ich das näher erklären mit dem „meiner Wege gehen“, weil sich daraus ein Motiv ergeben könnte, natürlich nur falls jemand mir übel will, aber gerade darum soll ich nicht verschweigen, warum die Insel so ein Paradies für mich war. Er hat Recht, das war sie wirklich. Und Jan versteht mehr davon, wie man Ereignisse richtig darstellt, er hat es ja von der Pike auf gelernt, auch wenn er später den Beruf wechseln musste wegen Kostorzky. Jan ist wirklich ein Freund, ohne ihn wäre ich verloren. Ich sagte ja schon, dass ich nicht so gut zu Fuß bin, oder sagte ich es noch nicht? Nun, es ist leider so, weswegen ich Jan, obwohl er mir immer wieder hilft, trotzdem nur selten in seiner Behörde besuche. Von der Insel aus ging es noch, rein entfernungsmäßig, allerdings waren mehrere stark von Lkw befahrene Straßen zu überqueren, wovor ich einen Heidenrespekt habe. Wo ich jetzt lebe, kann ich aus naheliegenden Gründen nicht sagen, aber es ist in einem ganz anderen Stadtteil. Wie kam ich jetzt da drauf? Ach ja, wegen „nicht gut zu Fuß“. Das liegt bei uns in der Familie, wir sind alle ein bisschen übergewichtig, haben auch relativ kurze Beine – irgendjemand muss da mal absonderliche Gene reingebracht haben – und sind deshalb auf längeren Wegen leicht kurzatmig. „Wat de annern in de Been hebbt“, sagte mein Großvater immer, als ich noch Kontakt zu meinen Leuten hatte, „dat hebbt wi in´n Kopp“. Nach einer Kunstpause fügte er dann noch hinzu, wobei er sich genüsslich auf den Bauch klatschte: „… un in de Kaldaunen!“ Anschließend rülpste er. So war sie und so ist sie, meine Familie, sinnlos, es zu verschweigen.
An meinem „Kopp“ haben sie immer gezweifelt: Du rennst dir noch den ganzen Speck ab und den Verstand dazu, und dann noch immer tagsüber in der prallen Sonne, kein Wunder, dass du abends ganz brägenklüterig bist. Aber meine Leute sind eben… naja, „lichtscheues Gesindel“ wäre zu hart, es sind einfach die hinterletzten Spießer, weswegen ich auch früh zuhause ausgezogen bin. Es lief dann nicht immer sehr gut für mich, aber auf der Billerhuder Insel schien sich alles zum Besseren zu wenden. Es war eine Insel in jeder Hinsicht, dorthin war mir die Intoleranz nicht gefolgt, mit der man meine Lebensweise immer argwöhnisch beäugt und kommentiert hatte. Einen Sommer lang konnte ich das Vergnügen genießen, tagsüber meiner Wege zu gehen, zu den schönen einsamen Plätzen, die ich an verschiedenen Stellen der Insel bald gefunden hatte, und dort an sonnigen Tagen stundenlang im Gras zu liegen, von Käfern und Bienen umsummt, und den Bauch in die Sonne zu halten. „Just sitting in the mid-day sun“, dieses wunderbare Lebensgefühl besang schon Ray Davies, und auch ich habe das immer genossen, wenn es möglich war, und weiß bis heute nicht, was daran abartig sein soll. „Just sitting in the mid-day sun…“ Unschuldige Zeiten und Sehnsüchte! Damit ist es vorbei, und das ist nur gerecht, denn ich selbst bin schuld am dem, was die schöne Zeit so grausam beendet hat.
Alles wurde anders von dem Tag an, als Kostorzky die Insel betrat. Er war das, was sie im Rheinland „ne fiese Möpp“ nennen. Ich war nie im Rheinland, den Ausdruck habe ich von Jan, der ihn von Sigrid, seiner Chefin, gelernt hat und an der Aussprache hören konnte, dass Kostorzky Rheinländer war. Ne fiese Möpp! Jan ist der Meinung, dass man über Tote sowas nicht sagt und dass es auf Kostorzky auch nicht zutrifft, der hätte ja nicht nur schlechte Seiten gehabt, wahrscheinlich, obwohl ihm jetzt auch keine guten einfielen, und jedenfalls hätte das nicht passieren dürfen, was passiert ist, wobei andererseits meine Schuldgefühle trotzdem gänzlich unangebracht wären. Das ist nett von ihm, aber es hilft mir nicht, im Gegenteil, ich fühle mich umso schuldiger, je mehr er Kostorzky verteidigt. Der war ne fiese Möpp, und er wollte meine Parzelle.
Habe ich schon erwähnt, dass meine Parzelle einen Bootssteg hatte? Sie hatte einen, und natürlich war mir klar, dass sie das umso attraktiver machte und es mit meinem Paradies irgendwann vorbei sein würde. Sowieso war es ja nicht „meine“ Parzelle, rein grundbuchmäßig, aber inzwischen fühlte ich mich dafür verantwortlich, immerhin hatte ich alles von Schnecken gesäubert und die runtergefallenen Birnen vom vorigen Jahr weggesammelt, sogar den Maulwurf vergrault, der sich im Frühjahr aufs Grundstück gewagt hatte. Und überhaupt, wenn man sich irgendwo richtig wohlfühlt, möchte man sich nicht gleich wieder vertreiben lassen, schon gar nicht von einem, der sich alles kaufen kann, weil er Geld hat und ein Boot und ne fiese Möpp ist. Natürlich hatte er ein Boot, haben solche Leute immer.
Ich hatte also einen Kleingarten mit Bootssteg. Das gibt es wahrscheinlich nur in Hamburg und auch da nicht gerade überall. Mir selber liegt nichts am Bootfahren, ich bin eher wasserscheu, und den Steg habe ich auch nie betreten, aber irgendwie war ich trotzdem stolz auf meinen Besitz. Jan war auch immer ganz begeistert, wenn er mich besuchte, er sagte, du lebst hier wie Gott in Schottland, die schöne Lage, mitten im Grünen und trotzdem urban und dann noch der Bootssteg. Weißt du was? Wir sollten versuchen, das hier für dich zu legalisieren, also dass es richtig deine Parzelle ist. Doch, das kriege ich hin, du weißt doch, daß Sigrid, meine Chefin, den Lessing ganz gut kennt vom Landesbund. Das ist der oberste Chef aller Hamburger Kleingärtner und außerdem in meiner Partei.
Vielleicht hätte ich mehr Begeisterung für solche Pläne aufbringen müssen, aber ich wollte nicht, dass sich Jan meinetwegen soviel Mühe machte und wahrscheinlich ja doch vergeblich. Über seine Partei und wie das mit den ganzen Seilschaften ist, also ich verstehe ja nichts davon, aber da macht er sich, glaube ich, sowieso Illusionen. Für diesen Satz kriege ich jetzt einen Seitenblick von ihm, aber er schreibt ihn doch hin.
Meine Parzelle würde niemand anders kriegen als Kostorzky. Das wusste ich sofort, als ich seine massige Figur über meinen Grund und Boden stapfen sah mit dem Vorstandsvorsitzenden vom Kleingartenverein. Der mochte ihn auch nicht, das konnte ich sogar von meinem Versteck aus erkennen, aber er nickte ständig und tat beflissen, wahrscheinlich hatte ihm der Lessing vom Landesbund den als neues Mitglied aufs Auge gedrückt. Fachmännisch, so sollte es wohl aussehen, begutachteten sie die Parzelle und besonders den Bootssteg, der übrigens genauso vernachlässigt war wie alles andere und einige morsch aussehende und nicht mehr richtig festgenagelte Bretter hatte. Als sie darauf gingen und der Vorsitzende, der etwas ängstlich wirkte, an einer dieser Stellen stolperte und sich, um nicht ins Wasser zu fallen, an Kostorzky festhalten musste, lachte der dröhnend und haute ihm auf die Schulter. Ne fiese Möpp eben. Er beäugte auch meinen Birnbaum, garantiert wollte er ihn sofort fällen lassen.
Sagte ich schon, dass ich Birnen mag? In Birnen könnte ich mich geradezu reinsetzen, da bin ich denn doch nicht ganz aus der Art geschlagen. Ich freute mich auf die Ernte im Herbst, nachdem ich die vergammelten und vergorenen Birnen des Vorjahres aufgesammelt und nahe meiner Bude deponiert hatte, wo sie allerdings einen strengen Geruch absonderten, so dass ich sie auf Jans Vorschlag an eine andere, näher zum Ufer gelegene Stelle brachte.
Jan war nicht dabei, als ich die eben geschilderte Szene auf dem Bootssteg beobachtete, und versuchte mich erst mal zu beruhigen. Wie hätte der Vorsitzende den Dicken genannt? Herr Kostorzky? Ja, den würde er kennen, auch von meiner Beschreibung her, kein Zweifel, auf den ersten Blick kein unbedingter Sympathieträger, aber das wären ja viele andere auch nicht. Wie sich herausstellte, hatte er Kostorzky mal als Chef gehabt, vor Jahren, als er noch bei dem Fachblatt für Tauchsport war. Nur kurz, denn Kostorzkys personalpolitische Vorstellungen hinsichtlich der Redaktion waren dann andere als die seines Vorgängers. Übrigens ein leidenschaftlicher Taucher, der Kostorzky, erinnerte sich Jan, im Grunde erstaunlich, wo doch Fett eigentlich immer oben schwimmt, na ja, das hätte ihm denn ja auch karrieremäßig genützt. Aber das alles lag lange zurück, und bei der Behörde ging es Jan ja auch nicht so schlecht, jedenfalls würde er Kostorzky diese Sache auf keinen Fall mehr nachtragen, der hätte sich ja auch irgendwomit profilieren müssen, und er selbst war schließlich noch in der Probezeit damals. Ich glaube manchmal, Jan ist zu naiv und will immer an das Gute im Menschen glauben.
Was ihn an meiner Schilderung viel mehr alarmierte, war das mit den morschen und lockeren Brettern am Bootssteg. Das könnte man auf keinen Fall so lassen, sagte er, und er würde sich gleich drum kümmern, bevor da jemand zu Schaden käme. Abends, als ich schon in der Bude war – ich fühlte mich vor Ärger ganz krank -, hörte ich Jan auch tatsächlich hämmern und sägen, er hatte sich sogar Gummistiefel besorgt, um in die Bille zu waten und den Zustand der tragenden Pfähle zu kontrollieren.
Am nächsten Tag ging es mir unverändert mies. Jan besuchte mich – wir blieben in der Bude, um nicht Kostorzky zu begegnen, falls der auftauchen sollte – und sagte, um mir was Gutes zu tun, hier, trink erst mal was, und schon hatte er mir aus einer mitgebrachten Flasche einen eingepütschert. Normalerweise trinke ich nur Wasser; das mag sich jetzt überraschend anhören, aber es stimmt, ich habe nie verstehen können, was man an Alkohol finden kann. Einmal von vergorenen Birnen probieren, und man tut es nicht wieder. Aber an dem Tag dachte ich, ist ja alles egal, und nahm ohne abzusetzen ein paar Schlucke. Das war ein Fehler, denn, wie ich zu spät merkte, war es Milch – gut gemeint von Jan, aber von Milch kriege ich Durchfall. Das konnte Jan nicht wissen, so lange kannten wir uns ja noch nicht. Er versuchte mich noch aufzumuntern: komm, Alter, nimm dich zusammen, Milch macht müde Männer munter… Es half nichts, ich musste verdammt schnell raus und wohin, und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf.
Draußen sah ich sofort Kostorzky, diesmal hatte er eine Frau dabei, vielleicht seine, aber wohl eher nicht, denn er führte einen ziemlichen Balztanz auf, entblößte gerade seinen Oberkörper und präsentierte sich in reichlich affigen Schwimmshorts. Es war ein wunderbar warmer Sommertag, das heißt, wunderbar hätte er sein können. Die beiden durften mich auf keinen Fall sehen, also schleppte ich mich, so gut es ging, dicht am Zaun zur Nachbarparzelle entlang, durch Büsche und hohes Gras einigermaßen getarnt, in Richtung Ufer und zum Steg. Ich hoffte, unbemerkt unter den Steg zu kriechen – dort, wo er anfängt und noch kein Wasser ist, sondern ein relativ geräumiger, kaum einsehbarer, von Brennesseln getarnter Hohlraum – und mich dort zu erleichtern. Ich weiß, es war eine absurde Idee, aber in manchen Situationen reagiert der Verstand einfach nicht so, wie er sollte. Trotzdem wäre es fast gelungen. Ich hatte schon den abschüssigen, fast zugewachsenen Trampelpfad erreicht, der zum Steg runterführt, und auch schon die Stelle passiert, wo ich auf Jans Vorschlag erst kürzlich die vergammelten Birnen vom Vorjahr deponiert hatte – genau auf diesem Trampelpfad, den ich ja sonst nie benutzte, und deswegen schien das eine gute Stelle zu sein. Ich war also um den Birnenhaufen herumgegangen – oder besser geschlichen, denn es rumorte jetzt schon sehr in meinen Gedärmen – und war vielleicht noch einen halben Meter oder so vom Steg entfernt, da hörte ich ein Trampeln und Schnauben und gleich darauf einen langgezogenen, wie Jan es mir später erklärte, Tarzanschrei – und als ich mich entsetzt umdrehte, sah ich Kostorzky in seinen Schwimmshorts und mit Taucherbrille in vollem Lauf auf den Steg und also auf mich zukommen, mit stampfenden Schritten, offenbar in der Absicht, als Teil seines Balztanzes vom Steg aus einen Kopfsprung in die Bille zu machen.
Was dann geschah, vollzog sich in Sekunden und weitaus schneller, als ich es schildern kann, und doch waren es die längsten und schlimmsten Sekunden meines Lebens. Als Kostorzky mitten in den glitschigen Birnenhaufen hineintrat, zog es ihm das Bein sofort unter dem Körper weg, welcher dadurch in eine waagerecht durch die Luft segelnde manövrierunfähige Masse verwandelt wurde, die ziemlich genau dort herunterzukommen drohte, wo ich mich instinktiv zusammengerollt hatte. In dem Moment muss er mich auch schon wahrgenommen haben, trotz der Taucherbrille, denn er versuchte verzweifelt seinen Schwerpunkt zu verlagern und zumindest nicht mit dem vollen Körpergewicht auf mir zu landen, was fatale Folgen auch für mich gehabt hätte. Tatsächlich traf er mich nicht voll, aber die rechte Hand, mit der er sich abzufangen versuchte, schrammte hart meine linke Seite, und ich sah, dass das Handgelenk und ein Teil des Unterarms blutig verletzt waren. Selber halb ohnmächtig vor Angst und Schmerz – das mit dem Durchfall hatte sich auch erledigt – hörte ich noch seinen erneuten, diesmal geradezu tierischen Aufschrei, nahm noch halbwegs wahr, wie sich der massige Körper aufbäumte und voll auf die Planken des Bootsstegs schlug, dann verlor ich das Bewusstsein und wachte erst in meiner Bude wieder auf, wohin Jan mich fürsorglich gebracht hatte, bevor die ganze Aufregung losging mit Polizei, Amt für Arbeitsschutz undsoweiter.
Insofern wusste ich zuerst auch nur von Jan – danach hat es sich ja schnell herumgesprochen -, dass Kostorzky in die Bille gefallen war und seine, also Jans, sofortigen intensiven Wiederbelebungsversuche leider keinen Erfolg hatten, während die Frau weggerannt war, um Hilfe zu holen. Wie es hat angehen können, dass der Bootssteg unter Kostorzky zusammengebrochen ist, wo doch Jan erst kurz zuvor die morschen Bretter wieder festgenagelt und überhaupt alles sorgfältig instandgesetzt hatte, kann ich mir bis heute nicht erklären.
Aber das ist auch egal, denn es war alles meine Schuld. Neid, Habgier und Missgunst sind verhängnisvolle Charakterzüge, das weiß ich jetzt, wo sie jemand das Leben gekostet und meins verpfuscht haben, denn ohne sie wäre ich nicht in einem so falschen Moment an einer so falschen Stelle gewesen. Wenigstens habe ich mir das Ganze jetzt von der Seele geredet, Jan hat es aufgeschrieben und wird es vielleicht irgendwann veröffentlichen, der Wahrheit zuliebe und um jeglichen anderen, falschen Versionen von den Ereignissen entgegenzutreten. Jan hat mir auch eine neue Bleibe besorgt, er ist wirklich ein Freund, doch, das muss er noch mal hinschreiben, auch wenn es ihm peinlich ist und er immer sagt, das sei doch selbstverständlich. Er hat schon mit Sigrid gesprochen, seiner Chefin, das ist okay, sagt er, seit er mit ihr auf Du ist, kann er sie um so was bitten. Sie wird mich bei sich aufnehmen, und dort werde ich in Sicherheit sein, wenn ich auch von vielem nur noch träumen kann, was ich auf der Billerhuder Insel so genossen habe, besonders vom „Sitting in the mid-day sun“.
Sigrid wird mich in ihrem Keller einquartieren, kühl, trocken und dunkel in einem Karton, den sie mit Blättern und Heu ausgepolstert hat, gänzlich artgerecht, wie sie es nennt, mit wenig, aber proteinhaltiger Zufütterung vor dem Winterschlaf. Immerhin strikt ohne Milch. Und so werden – während sich Jan freundlicherweise um meine Parzelle kümmert, er hat schon mit dem Lessing vom Landesbund gesprochen, es geht wohl in Ordnung – werden meine Stacheln niemanden mehr verletzen und ein so gänzlich sinnloses Ende finden lassen.
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