So ist Stellingen – Frust, Trotz und Freundschaft

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< <24. Juni 2019>>Jens R. Prüß

(Quelle: Hamburger Abendblatt vom 29. April 2000)

„Absolute Giganten“ heißt der Film; es geht um den Frust, aber auch die Stärke und Freundschaft von Jugendlichen in einem typisch öden Hamburger Beton-Stadtteil. Zu Beginn schwenkt die Kamera über das Osdorfer-Born-Panorama, dann folgt der Blick hoch oben vom Balkon – über Osdorf? Natürlich nicht, denn da fände er nur grasende Kühe. Nein, nun schweift er plötzlich über Stellingen mit seinen Gewerbegebieten, Verkehrsflächen, Graffiti und so weiter…
So ist nämlich unser Stadtteil, wie er leibt und überlebt zwischen Hagenbecks Tierpark und Müllverbrennungsanlage. Bei Hagenbeck war jeder schon mal, also auch in Stellingen; das immerhin können Winterhude und Wellingsbüttel nicht von sich sagen. Die MVA liegt auf Bahrenfelder Gebiet, heißt aber „Stellinger Moor“ – typisch. Wir sind halt die von der Mülle. Tristan und Miesolde heißt das einzige Stück, das hier spielt, und „die da oben“ haben den Stadtteil längst vergessen…
Ist Stellingen so? Mein Teil von Stellingen heißt Langenfelde. Wir wohnen grün und stadtnah, elf Minuten braucht die S-Bahn bis zum Hauptbahnhof – dafür fährt sie dicht am hinteren Gartenende vorbei, alle zweieinhalb Minuten und nicht zu überhören. Auf dem Weg zur Station begegne ich Nachbarn, die immer zurückgrüßen, und anderen, die immer weggucken. Unseren Haustieren ist das egal, die Eichhörnchen fetzen die Pappeln rauf und runter, das Dompfaffenpaar renoviert sein Nest (heimlich, wegen der Elstern).
Ein akkurater Vorgarten mit Teich, dann das Ensemble „Ruine mit Bierdosen im Brombeergestrüpp hinter Buchenhecke“. Die frisch versiegelte Auffahrt mit Carport. Die Kirche – an der bleibe ich stehen, wenn drinnen der Gospel-Chor übt. Höre ich statt dessen den Zug kommen, sprinte ich los, am Kiosk vorbei; der Zeitungsmann winkt mir nach, im Aufgang zum Bahnsteig stinkt es nach… egal. Steil ist die Treppe, also los, drei Stufen pro Schritt, „zurückbleim bidde“, ich bin drin, die Hochhäuser bleiben zurück.
Die stehen jenseits der S-Bahn-Trasse und gehören zum anderen Langenfelde: zur Großsiedlung „Linse“ mit über 3000 Wohnungen, keinem Supermarkt mehr, aber mancherlei Problemen. Der Supermarkt ist ein herber Verlust; zwar war das Gemüse nicht immer knackfrisch, aber dafür das Personal geduldig und hilfsbereit, auch wenn jemand mit dem Abzählen der Groschen nicht so zurecht kam, weil das Alter oder was anderes die Finger ungelenk machte. „Gib mal her, mein Deern, ich mach das“: Sozialarbeit live… Nun steht ein Schild an der Kieler Straße und wirbt um Pächter; noch sind die Scheiben des Gebäudes heil.
Die Probleme ähneln denen in andern Großsiedlungen, doch sie werden nicht bejammert, sondern angepackt. Wolfgang Karsties, Vorsitzender der Wohnungsgenossenschaft Langenfelde, und Conny Schubecker, die neue Quartiersentwicklerin, kennen Theorie und Praxis von Fehlbelegungsabgabe, Verbesserung des Wohnumfeldes und Ansprache gelangweilter Jugendlicher. Fluktuation und/oder Standhalten? Beide wirken entschlossen, die verschiedenen Teile Langenfeldes nicht auseinander driften zu lassen.
Historisch haben die sowieso dieselben Wurzeln, denn ursprünglich war die Wohnungsgenossenschaft ein Kleingartenverein, gegründet 1921, und früher bestand Langenfelde eigentlich nur aus dem Ziegelteich (nun größtenteils zugeschüttet), einer sagenumwobenen Ziegelei (ihre Altlasten vermutet man unten im Teich) und Kleingärten. Gut für die Eichhörnchen, die Dompfaffen und uns, dass davon noch ein guter Teil erhalten ist. Irgendwann werden sie auch uns „nachverdichten“ (das Wort kann nur ein Sozialdemokrat erfunden haben, aber ich wars nicht).
Ein Stück heile Welt am Rande der kaputten? Manche sehen es so. Als Langenfelder sind wir gleichzeitig Stellinger, und begeben wir uns in Richtung Kieler Straße/Ecke Sportplatzring, erleben wir hautnah den geteerten und nicht abgefederten, sondern zerstückelten Teil des einst holsteinischen Dorfes Stellingen. Es stimmt, pfleglich ist der Senat mit seinem Beute-Stadtteil (seit 1937) nicht umgegangen. Durch Autobahn und Kieler Straße gevierteilt, muss Stellingen obendrein mit Fern-, Güter- und S-Bahn sowie Fluglärm leben – es fehlt eigentlich nur ein Kanal, dann wären alle Verkehrsadern vorhanden und das Herz vor lauter Bypässen gar nicht mehr zu finden.
Das Verkehrskonzept Stellingen der Orts-SPD ruhte jahrelang sanft in einer Baubehörden-Schublade. So ward denn eine Delegation beim Kopenhagener Hofe vorstellig: Die Königin möge sich den Verkehrsproblemen ihrer Stellinger Untertanen zuwenden, als ehemalige Landesmutter. („Hvad“, soll sie ihren Redenschreiber gefragt haben, „er dog det for noget?“ Übersetzung: Wat is dat denn al wedder förn Kreihenschiet?)
„Dänisch“ war Holstein ungefähr so wie Kamerun mal deutsch war oder ganz Gallien römisch, aber im Ernst: Bei vielen Stellinger(inne)n, gerade den älteren, die sich noch an dörfliche Verhältnisse erinnern, hat sich eine widersprüchliche Mischung aus Resignation und Trotz breit gemacht, ein „Wir-sind-Stellinger- und-ihr-da-oben-nicht“. Es gibt ein reges öffentliches Leben vom Bürger- und Heimatverein bis zum Single-Treff, das alljährliche Stellingen-Fest versäumt keiner, man mischt sich ein und stellt Forderungen. Parteien gibt es auch; Sitz von Ortsausschuss und -verwaltung ist das alte Rathaus, vor dem wir jetzt stehen an der Ecke Basselweg gegenüber der Bücherhalle (die bleibt, darum haben wir erfolgreich gekämpft).
Auf großflächigen Plakaten einer Bürgerinitiative war voriges Jahr eine Riesenfaust zu sehen, wie sie dieses Rathaus gerade zerquetscht. „Eddi“ Mantell, der Bezirksamtsleiter, hatte sich mit Überlegungen zu einer Verschlankung der Verwaltungsstrukturen voll in die Nesseln gesetzt, und heißa, war das eine Chance für die Volkstribunen innerhalb wie außerhalb des Parteienspektrums. Demos wurden organisiert, der Untergang Stellingens an die Wand gemalt und „Leserbriefe“, in Wahrheit Statements lokaler Politgrößen, gelangten im Wochenblatt zum Abdruck. Die Frage, wie oft in seinem Leben der durchschnittliche Stellinger wohl seine Bauprüfabteilung aufsucht, wurde nicht erörtert.
Dass es auch ganz anders geht, zeigte sich beim Thema Ortszentrum. Ein solches gibt es in Stellingen nicht, wenngleich Stadtplanung und verschiedene Gutachter seit Jahren darüber nachdenken. Umstritten sind Standort, Konzept, Finanzierung… eigentlich alles, aber dass ein Zentrum her muss, um die Stadtteil-Identität zu stärken, ist Konsens. Schließlich organisierte der Ortsausschuss parteiübergreifend einen öffentlichen Workshop, und zweihundert interessierte Stellinger diskutierten von Grund auf über die vorliegenden Pläne sowie eigene Ideen, viele Stunden lang an einem Sonnabend, zeigten Einfallsreichtum, waren konstruktiv und hörten sich gegenseitig zu. Die Meinungen blieben geteilt, die Fensterreden diesmal ungehalten.
Ob, wann und wo es ein Ortszentrum geben wird, steht trotzdem noch dahin. Wenn es kommt, bleibt es hoffentlich länger stehen als Hans Henny Jahnns Geburtshaus, das nun abgerissen werden soll, bevor es von selbst umfällt. Wir Stellinger werden weder umfallen noch untergehen. Die Opferrolle sollten wir ablegen und mehr über das reden, was wir an unserem Stadtteil mögen. Kann Heimatliebe an Bezirksstrukturen scheitern? „Holsteiner kennen keine Verwaltungsgrenzen“, war das nicht mal ein Auto… äh, Fahrradaufkleber? Nun denn!

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