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< <7. März 2019>>Jens R. Prüß

(Quelle: vorwärts 11/99)

Was vom zweitgrößten Kombinat in der DDR übrig blieb: Ein Besuch in der Rosen- und Bergbaustadt Sangerhausen am Harz.

Eigentlich beginnt diese Geschichte in der Zeit des Kaisers Barbarossa oder noch früher, aber zugespitzt und gewendet hat sie sich im Herbst 1989. “Gewaltfreie Demonstration in der Innenstadt von Halle” – am 24. Oktober vor zehn Jahren bringt die “Freiheit”, die Tageszeitung der SED im dortigen Bezirk, erstmals eine Überschrift dieser Art und berichtet, dass 7.000 Bürger “spürbare Veränderungen, weiterführenden Dialog und kritische Bewertung der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR” gefordert haben. Am 27.Oktober kündigt dasselbe Blatt eine Veränderung an, die sehr spürbar sein wird, nämlich das Ende des Kupferschieferbergbaus in der Region; konkret: dass die Schächte Sangerhausen und Niederröblingen “bis 1996 die Arbeit einstellen” würden.Da ist er denn heraus aus der Schublade, der lang gehegte und herausgeschobene Plan, denn dass so etwas nicht gerade in drei Tagen übers Knie gebrochen wird, muss jedem klar sein. Nun aber ist es zu spät für einen sanften Ausstieg. Ein Jahr später, im Oktober 1990, berichtet die “Mitteldeutsche Zeitung”, wie die ehemalige “Freiheit” nun heißt, über ein Fortbildungs- und Umschulungsprojekt für ehemalige Bergarbeiter in Sangerhausen und bestätigt, dass die inzwischen eingestellte Kupfererzförderung “längst schon uneffektiv” gewesen sei.

Probleme entgegengesetzter Art hat zur selben Zeit die Norddeutsche Affinerie, Hamburgs große Kupferhütte mit (zu der Zeit) rund 2.900 Beschäftigten. Aber, so der Geschäftsbericht 1989/90: “Die Schwierigkeiten, qualifizierte gewerbliche Arbeitskräfte für unser Werk zu gewinnen, konnten vorübergehend durch die Einstellung von Um- und Aussiedlern vermindert werden”.

“Aufbruchsstimmung” mal so, mal so… Hat es auch Facharbeiter aus Sangerhausen und dem Mansfelder Land damals nach Hamburg gezogen, als sich zu Hause das Ende des Kupferschiefers ankündigte? Das Ende der Förderung jenes Metalls, das seit Barbarossas Zeiten der Reichtum der Region war? Doch, sagt Stefan Gebhardt, der in Hettstedt Metallurge für Hüttentechnik gelernt hat, einige sind rübergegangen, auch ins Ruhrgebiet, die waren durchaus gefragt, denn die Ausbildung war gut bei uns und vielseitig, nur mit der Arbeit am Computer hatten die anfangs Probleme.

Gebhardt, der schon vorher eine berufliche Alternative hatte, ist geblieben, und ebenso Abertausende in der Region, denen es seither nicht gut ergangen ist. Denn die Schließung der letzten Schächte war nur der Anfang. Ungefähr 47.000 Werktätige waren im VEB Mansfeld Kombinat “Wilhelm Pieck” republikweit mit dem Fördern, Verhütten und Weiterverarbeiten von Kupfer, Aluminium und Eisen beschäftigt, davon 8.000 im Bergbau, als die Wende kam. Kurz darauf begann schrittweise, doch atemberaubend zügig die Entflechtung und Verkleinerung des zweitgrößten Kombinats in der gesamten DDR. Zuletzt noch als Mansfeld AG firmierend, ist es seit 1993 aus dem Handelsregister getilgt.

Nicht alle jene 47.000 sind arbeitslos geworden; etliche Nachfolgefirmen haben sich behauptet, darunter die Mansfelder Kupfer und Messing GmbH (MKM) in Hettstedt mit gut 1.000 von ehemals 7.800 Beschäftigten, die unter anderem noch Kupfer aus Sekundärrohstoffen produzieren und verarbeiten. Um neue Industrie- und Gewerbeansiedlungen bemühen sich Sangerhausen, Helbra, die Lutherstadt Eisleben und andere mit wechselndem Erfolg; Pendler und Übersiedler haben anderswo ihr Auskommen gefunden. Aber wenn Zahlen nicht lügen, sagen auch diese eine Wahrheit, und es ist eine bittere: 31.684 Arbeitslose, das sind 24,2 Prozent der abhängigen Erwerbspersonen, im Arbeitsamtsbezirk Sangerhausen, der den gleichnamigen Landkreis sowie das Mansfelder Land und den Kreis Aschersleben-Staßfurt umfasst. Das war in diesem Sommer der höchste Wert in ganz Deutschland.

Wie verkraftet eine Region eine so schaurige Zahl und die fragwürdigen Perspektiven, die sie verheißt? Auf den ersten Blick: erstaunlich ungebeugt. Die Kreisstadt Sangerhausen hat eine hübsche verkehrsberuhigte Altstadt, die aus Landesmitteln gerade neu gepflastert wird. Es gibt eine Vielzahl gutsortierter Geschäfte, alle Infrastruktur vom Telekom-Laden bis zur Stadtbücherei, es gibt einen Wochenmarkt, Cafés, internationale Restaurants und Szenekneipen. Es gibt auch Kundschaft, denn zum Glück ist noch einiges an Kaufkraft vorhanden, mehr als man denkt, nicht zuletzt – sagt man mir – wegen der vergleichsweise guten Renten der ehemaligen Bergleute.

Einheimischen wie Durchreisenden wird ein Museum mit Original-Mammutskelett geboten; das bald 100-jährige Europa-Rosarium ist ein Park mit mehr als 6.800 Rosensorten. Die Lokalpresse meldet, dass beim 7. Rosenstädter Bockbierfest “über 3.000 Liter Frischgebrautes durch 750 durstige Kehlen” gelaufen sind. Mittags sieht man Leute im Blaumann, Rentner, auch ein paar jugendliche Skins rund um den Kiosk auf dem Bahnhofsvorplatz; kaum Graffiti, eine weinbewachsene Kirche, noch eine mit schiefem Turm, und vom Standpunkt des früheren Schachtes aus sieht man auf eine große Plattenbausiedlung. Dort, sagt Marina Becker im Rathaus, nimmt der Leerstand zu, weil, wer es sich leisten kann, ins Grüne zieht; das hat die Einwohnerzahl der Stadt auf 27.000 vermindert, 18 Prozent weniger als 1991.

Potenzielle Investoren lockt Sangerhausen mit schwungvoll nach oben weisendem Pfeil und einem Video, auf dem auch Marina Becker zu sehen ist, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit und schon gewöhnt an Journalisten und Fernsehteams: Jeden Herbst, wenn die depressive Zeit beginnt, sind sie dem Untergang Sangerhausens auf der Spur, aber der steht nicht zu befürchten. Mühselige Kleinarbeit ist es, hier mittelständisches produzierendes Gewerbe anzusiedeln, aber an Schulen und Kindergärten sowie neuen Gewerbegebieten mangelt es nicht. Wir betreuen die bis zum Eintrag ins Grundbuch, sagt sie, und wenn erst mal die beiden Autobahnanschlüsse eröffnet sind… Administrative Funktionen hat die Stadt ebenfalls, siehe Kreisverwaltung, Arbeitsamtsbezirk und noch anderes, hoffentlich stellt die Gebietsreform das nicht in Frage.

Trotzdem, nicht alle “vier Eckpfeiler des lokalen und regionalen Wirtschaftsgeschehens”, die der Stadtverwaltung 1992 vorschwebten, sind zu tragenden Säulen geworden. Die Verflechtung mit Osteuropa, besonders mit der Partnerstadt Zabrze in Oberschlesien besteht zwar auf kulturellem und sportlichem Gebiet, aber wirtschaftlich haben die Polen eigene Sorgen. Und statt vieler Touristen sind es die Einheimischen selbst, denen die ständige Erinnerung an die Zeiten, als es “brummte”, vor Augen steht, denn die ist nicht zu übersehen: die Spitzkegelhalde im Norden der Stadt, denkmalgeschützt, je nach Wetter und Tageszeit grau, braun oder kupferrötlich schimmernd. Zu ihren Füßen befand sich der Schacht “Thomas Münzer”, der Zugang zum Kupfererz des Sangerhäuser Reviers.

Auf dem Weg dorthin komme ich am Büro der Arbeitsloseninitiative ALI e.V. vorbei. Ob die Beraterinnen mit dem vorwärts-Menschen sprechen wollen, müssen sie erst überlegen. Als ich am nächsten Tag wiederkomme, sind drei Damen und ein Herr freundlich bis skeptisch, man schenkt großzügig Kaffee, aber auch Vorwürfe aus: Uns kommt ihr mit einem Sparpaket nach dem anderen, statt dass der 2. Arbeitsmarkt gestärkt und ausgebaut wird, denn sonst haben wir hier doch nichts mehr. Die SPD will uns die Arbeitslosenhilfe wegnehmen, und anderswo werden die Fördergelder rausgeschmissen. Gewerbeansiedlung? Wo der Schacht war? Gucken Sie sich da doch um, Discountmärkte bauen sie, und sonst wachsen da bloß Disteln. Nee, hier sind die Messen gesungen…

Geballter Frust, verständlich auch wegen der persönlichen Situation der Mitarbeiterinnen, deren ABM-Stellen gerade auslaufen, so dass sie selbst wieder zu denen gehören werden, die sie jetzt beraten und betreuen: bei Behördenkontakten, Versicherungsfragen, dem Ausfüllen von Anträgen und Schreiben von Bewerbungen, aber auch beim Bewältigen der persönlichen Situation. Fördermittel ermöglichen Projekte wie eine Suppenküche (in Artern) und einen Biogarten und sind doch immer knapp bemessen; Büromobiliar und -ausstattung hat man selbst organisiert. Engagement einerseits, ein gewisser Hang zur Opferrolle andererseits – vielleicht unvermeidlich für Selbstbetroffenen-Initiativen. Demonstrieren wie damals? Wozu? Politik bringt ja doch nichts…

Bringt eine Menge, sagt Silvia Schmidt im SPD-Büro Mansfelder Land in Eisleben. Bedrückend ist die Situation in vielen Familien, und klar, in meinen Sprechstunden werde ich wegen allem angegriffen: Kindergeldanrechnung, Renten, Ökosteuer, ihr und die Grünen habt den Sprit teuer gemacht – all diese Dinge, die nicht so gut vermittelt worden sind. Dabei haben wir doch Leistungen aufzuweisen, in Berlin und hier, auf die wir stolz sein sollten. Allein die Investitionen im Bereich Altenpflege oder Behinderte, wenn ich da vergleiche, was wir vor der Wende hatten und jetzt… Auch das produzierende Gewerbe hat hier Chancen, das sagt auch die IHK, und die Autobahn ist ja 2005 fertig.

Silvia Schmidt ist 1995 dem SPD-Ortsverein Braunschwende beigetreten, der dadurch von elf auf zwölf Mitglieder anwuchs, und kämpft jetzt als direkt gewählte Bundestagsabgeordete in Ausschüssen, Wirtschaftsförder- und anderen Gremien dafür, dass Gutes getan und darüber geredet wird. Ihre politische Blitzkarriere wurde dadurch möglich, dass sie in der Region geboren und aufgewachsen, außerdem Diplomsozialarbeiterin ist und mit Erfolg ein förderpädagogisch- therapeutisches Zentrum geleitet hat, somit den Dialekt und die Probleme der Mansfelder versteht und sich nicht scheuen muss, Kontra zu geben. Von abstrakten Visionen hält sie wenig, von den Fähigkeiten ihrer Landsleute viel und von Resignation gar nichts: Viele sind weiterhin bereit, auch für 86,7 Prozent zu arbeiten, aber wir müssen hier die eigenen Köpfe benutzen, die Menschen motivieren, auf den ersten Arbeitsmarkt kommt es an.

Und wie ist es mit dem Biosphärenreservat, den großflächig schon ausgewiesenen oder geplanten Landschaftsschutzgebieten, könnte das eine Stärke der Region sein? Aus der Not eine Tugend machen, auf “sanften Tourismus” setzen? Mein Ansatz ist sehr ökologisch, sagt sie, aber gegen die Autobahn zu sein oder jetzt auch noch den Gipsabbau einzuschränken, das wäre der falsche Weg… Stattdessen sprudeln dann doch Visionen: Nachwachsende Rohstoffe, Geothermie, verrottbare Plaste für Flugzeug-Catering, Regio-Projekte, Gen- und andere Technologie ins Mansfelder Land: Es muss doch was passieren!

Eine neue und dann auch noch “saubere” Industriekultur… das wäre in der Tat ein starker Kontrast zur Kupferverhüttung früherer Zeiten. Waren Umweltprobleme im Mansfelder Land zur DDR-Zeit kein Thema? Doch, sagt Günter Jankowski, Geologe im Bergbau und jetzt im Ruhestand, Buchautor und Kenner der wechselvollen Berg- und Hüttengeschichte. Man habe auf die Gefährdung der Eislebener Bevölkerung mit Blei und anderen giftigen Emissionen reagiert, indem man die Karl-Liebknecht-Hütte 1972 schloss. Von der Technologie her veraltete Systeme sollten erneuert werden, ein einziger moderner Ofen hätte die zehn bisherigen ersetzt, im Grunde wäre das eine ganz neue Hütte geworden. Aber, so sein bitteres Fazit, durch die Wende wurde ja alles zerschlagen…

Also eine der sattsam bekannten “Abwicklungen” ganzer Industrien nach der Pfeife des Kapitalismus und dem Taktstock der Treuhand? Trotz Modernisierungsbereitschaft? Tatsächlich hat schon die DDR-Führung lange gewusst, dass auch nach eigenen Maßstäben zumindest der Bergbau im Sangerhäuser Revier immer weniger ergiebig und die fortgesetzte Subventionierung der Mansfelder Kupferproduktion ein Fass ohne Boden sein würde.

Ab 1980 wurde in Berlin darüber diskutiert, den Kupferschieferbergbau planmäßig einzustellen, bestätigt Hans Joachim Langelüttich, seinerzeit Planer in der Technischen Direktion des Kombinates. Natürlich nicht öffentlich, aber der mittleren Leitungsebene war es bekannt. Unsere Anfrage bei der Staatlichen Plankommission, welche Alternativen für eine Folgeproduktion man denn sehe, ergab betretenes Schweigen. Steigende Selbstkosten, fallende Erlöse am Weltmarkt; die Volkswirtschaft konnte die Modernisierung nicht leisten, und 7.000 Arbeitslose zu verantworten war natürlich undenkbar. Stattdessen wurde noch ein neues Randfeld aufgeschlossen.

In den 80er-Jahren, bestätigt Stefan Gebhardt, haben wir schon große Mengen Zuschlagsstoffe, also kupferhaltigen Schrott, aus halb Europa zugekauft, weil der Erzgehalt am Gestein aus den eigenen Gruben immer geringer wurde. Aber nicht nur die Förderung war unrentabel. Nach der Aufbereitung in der Rohhütte wurde das Ganze heruntergekühlt, dann ging es mit der betriebseigenen Bahn ein paar Kilometer zur Weiterverhüttung und so fort. Was dadurch allein für Energie vergeudet worden ist…

So blieb es dem Kapitalismus vorbehalten, nach der Wende auf seine Weise die Probleme anzupacken, die der Sozialismus vor sich her geschoben hatte. Und der Sozialdemokratismus darf jetzt die Verantwortung tragen und die Folgen abmildern… “Tun wir ja auch”, sagt Silvia Schmidt. “Was wäre wohl passiert, wenn wir nicht so einen Druck gemacht hätten, als Mansfelder Kupfer und Messing GmbH investieren wollte in die neue Anodenhütte? In zwei Monaten war das Genehmigungsverfahren durch.”

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